Besuch in Südafrika 2014 –
Die Nachrichten, die wir im vergangenen Jahr aus Haiti bekommen haben, waren zwar nicht nur gut – eine Virusinfektion mit Fieber, Kopfschmerzen und Durchfall hatte fast alle heimgesucht. Aber alles schien so „normal“ dass wir uns entschlossen hatten, im November/Dezember nicht auf die uns lieb gewordene Insel, auf die fast ausschliesslich die der Stiftung zur Verfügung stehenden Mittel fliessen, sondern nach Südafrika zu fahren.
Am Morgen der Ankunft hatte uns Stella mit einem Schild „Heinz+Dieter“ am Flughafen abgeholt. Stella Khumaro – I’m an artist hatte sie vorher gemailt – war uns von Pon’s Freund Hans, über dessen Freund Jo als unsere Begleiterin – your friends are my friends – für Johannesburg ans Herz gelegt worden. Sie hat uns in den Tagen ihre Stadt gezeigt, die so viel schöner, so viel interessanter und nicht annähernd so gefährlich ist wie ihr Ruf.
Dem grossen Nelson Mandela, bewundert von allen als der Staatsmann, der das Land nach den Auseinandersetzungen um das Ende der Rassentrennung nicht hat zerreissen lassen, ist ein Teil des Apartheid-Museums auf einer der Anhöhen gewidmet, von der man sowohl einen Teil Johannesburgs wie auch die Hügel von Soweto im Blick hat. Die Eingänge sind – ein Zitat der vergangenen Absurdität – getrennt für Whites und Non-Whites. Heute geht Stella mit uns durch die Tür für die Weissen, wir kehren noch einmal zurück, nehmen den Eingang für die Nicht-Weissen und erleben so einige Stufen der alltäglichen Erniedrigung, der Verbote, Gängeleien und Schikanen, denen sie als junge Frau, sowie die grosse Mehrheit, damals 80, heute eher 85% der Bevölkerung des Landes jeden Tag ausgesetzt waren.
Ein Wahlrecht gab es für diese nicht-weisse Mehrheit (Black, Coloured, Indian und alle möglichen und unmöglichen Zwischenstufen) vorher nie, aber erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Trennung der Rassen so brutal durchgesetzt worden, dass kein Auskommen möglich war. Natürlich gab es keine Ehen (mehr) zwischen weiss und nicht-weiss, intime Beziehungen waren verboten, Berufe nicht zugänglich, das Innere aller Städte, höhere Schulen und Universitäten im Lande für die Nicht-Weissen verschlossen. In vielem müssen wir nur an die beschämenden Rassegesetze in Deutschland ab 1933, später auch in Österreich und Italien denken, da durften sich Juden auch nicht mehr auf Parkbänke setzen. Ermordet hat man hier, anders als seinerzeit in Deutschland, allerdings niemand. Die Arbeitskräfte wurden immer gebraucht.
Am nächsten Morgen fährt uns Stella nach Soweto, der SOuth WEstern TOwnship. Auch Soweto, kaum 20km von Johannesburg entfernt, liegt auf Hügeln, braun, staubig, kaum ein Baum zwischen den Häusern, die Grundstücke immer winzig. War hier nie Grün? Ist jeder Baum zum Kochen und Heizen gefällt worden, oder ist nur in der reichen Nachbarstadt alles Grün nach der Zeit des Goldabbaus angepflanzt worden? Abraumhalden sahen wir auch an vielen Stellen in Johannesburg, hier fallen sie mehr auf: Kein Park, keine Allee, kein Garten verdeckt sie.
Auf einem Hügel am Rande des Township kommen wir zum Hector-Pieterson-Museum. Wir sehen das Foto und erinnern uns: Der schluchzende junge schwarze Mann, der den erschossenen Schuljungen auf beiden Armen vor sich her trägt, neben ihm ebenso entsetzte Jungen und Mädchen. Das Bild ging 1976 auch bei uns durch viele Zeitungen und Nachrichtensendungen, es ist uns so im Gedächtnis wie das des weinend-schreienden Mädchens aus My Lai nach dem Napalm-Bomben-Angriff.
Hector Pieterson war der tote Knabe auf den Armen des jungen Mbuyiso Makhubo. Der ist nach jenem Tag verschwunden, auf der Flucht vor der Polizei. Niemand weiss bis heute, was aus ihm geworden ist und ob er noch lebt. Das Museum ist dem toten Jungen und dem Aufstand der Schulkinder gewidmet, die sich – ohne Wissen ihrer Eltern und Lehrer – gegen die erniedrigende und quälende Anordnung, dass Unterricht und Prüfungen in Afrikaans, der aus dem Holländischen abgeleiteten Sprache der Buren abzuhalten seien; weder in einer ihrer Bantu-Sprachen, noch in Englisch, dass die meisten einigermassen beherrschten, sondern in der Sprache weissen Macht. Dieses Aufbegehren der Schüler – Streiks oder Revolten gab es vorher so gut wie nicht, der Polizeistaat war straff und überaus effektiv geführt – gilt heute als der Beginn des Endes der Apartheid. Die Schüler wurden zwar an jenen Tagen mit Gewalt zurückgedrängt, aber mit diesem Aufbegehren begann der Kampf um die Stimme für jeden Mann, jede Frau. Gegenüber dem Museum liegt noch immer die Schule, von deren Schülern die Empörung ausging. Der Tag, an dem alles begann, der 16. Juni, ist heute der National Youth Day.
Zwanzig weitere Jahre brauchte es, bis 1996 die ersten freien Wahlen stattfanden, die neue Verfassung gebilligt und Mandela als erster von allen gewählter Präsident an die Spitze kam. Wie einzigartig diese Einigung für das Land war, wird uns vor allem klar, wenn wir uns an das alte Rhodesien erinnern, das heutige Zimbabwe. Dort hatte eine genauso kleine, mächtige, weisse Minderheit unter Ian Smith hartnäckig zu lange an der Macht festgehalten. Dann kam der Umsturz unter Mugabe, alle Ordnung war zerstört, den Weissen wurde ihr Besitz, ihr Land genommen, deswegen hatten aber noch lange nicht alle Nicht-Weissen gewonnen und eine neue, auch nur halbwegs tragfähige Ordnung gibt es bis heute nicht.
Am Endpunkt unserer Reise, in Kapstadt, fahren wir weiter nach Süden zu einem der Ziele, nach Masiphumelele – auf Xhosa heisst das: wir werden es schaffen.
30 km südlich von Kapstadt liegt das Township mit dem anfangs unaussprechbaren Namen. Hier sind wir mit dem Autor Lutz van Dijk verabredet, der HOKISA, Home for Kids in South Africa im Jahr 2001 mitgegründet hat. Dieses Heim sollte ein Zuhause werden für einige der vielen Waisen, deren Mütter an AIDS gestorben waren oder nicht mehr in der Lage waren, die Pflege und die Betreuung der eigenen Kinder aufrecht zu erhalten. Sein Engagement und das seines Partners, verbunden mit der Hilfe aus dem Ort, dem Grundstück im Zentrum der Siedlung, das zur Verfügung gestellt wurde und helfenden Händen hat er daraus ein lebendiges Haus gemacht.
Nach einer Stunde mit den Kindern, für die Lutz der Übervater ist – ständig hat er eines auf seinem Arm oder im Schoss – sprechen wir in seinem Büro mit ihm über Erfolge und Probleme von HOKISA, dem Zuhause für über 20 Waisen, die mehrheitlich HIV-infiziert sind. Alle Kleinen sind sich ihrer Lage bewusst und nehmen regelmässig die Medikamente ein, mit denen sie heute gut leben können. Gerade stürmt ein Junge vom Arztbesuch herein und zeigt strahlend einen Zettel: Er hat ein halbes Kilo zugenommen. „Super“ bedeutet ihm Lutz mit erhobenem Daumen und betont uns gegenüber stolz, dass sie noch kein Kind verloren hätten. Bei ständiger Einnahme der in SA kostenfreien und inzwischen verträglichen Medikamente müsse niemand mehr auf Grund einer HIV-Infektion sterben.
Lutz van Dijk sagt, er sei froh, HOKISA heute so etabliert zu haben, dass es notfalls auch ohne ihn und seinen Partner weiter den Kindern ihr Zuhause, ihre Familie, der Hort ihrer Jugend sein könne. Wir sind, wie so oft auch bei unseren Begegnungen in Haiti, beeindruckt von seiner Begeisterung, vom Einsatz für die ganz Kleinen, die ja immer auch den fortgeführten Einsatz für die grösser werdenden, für die Heranwachsenden mit den grösseren Problemen nach sich zieht.
Wir hoffen, es wird uns möglich sein, aus den Mitteln der Stiftung auch hier das Engagement in der Zukunft zu unterstützen. Hilfe ist natürlich immer sinnvoll und notwendig, gebraucht wird vieles – Mangel ist auch hier in vielen Bereichen – aber in Haiti ist Elend überall.
Dann kommt Charlotte, die uns in unserem Wagen und zu Fuss mit gewissem Stolz durch ihr Township „Masi“ führt. Es gibt jetzt geteerte Strassen mit Randstein und Gehweg, Strom, Wasser und Kanalisation. Gemauert ist erst die Hälfte der Häuser, daneben stehen noch Wellblechhütten, manchmal an den Ecken kleine Läden in Containern.
Auf dem asphaltierten Platz vor der Volksschule findet eines der Ferienprogramme statt: Zwei Reihen mit Kindern, die sich einer hinter dem anderen an den Schultern festhalten, hocken auf dem Boden. Plötzlich springen sie kreischend auf und stieben auseinander, weil zwei Erzieherinnen von hinten mit Schwung über die Kinderketten einen Eimer Wasser ausschütten. Soviel Juchzen ohne Planschbecken, was für ein Spass!
Wir besuchen die Library, eine Volksbücherei mit Lese-und Arbeitsplätzen, Zeitschriftenausleihe, Computer-Versammlungsraum und kleinem Malstudio. Susan Alexander, die Leiterin, eine weisse Südafrikanerin, hat das Kulturzentrum gegründet und führt es mit zwei festen Mitarbeiterinnen, die, wie auch der laufende Betrieb, von der Stadt finanziert werden.
Auf einen eingezäunten Lagerplatz hat sich in zwei Containern eine Werkstatt für Gehörlose etabliert; geleitet von Charles, der den Betrieb anfing, als ihm klar wurde, dass sein tauber Bruder, zehn Jahre jünger als er, wegen seiner Behinderung keine Arbeit fand. Nun betreibt Charles eine Servicefirma mit dem Motto: „Taube können alles“. Ausser diversen Dienstleistungen ist ihre Spezialität die Fertigung von Ketten aus Altglasscherben. Diese werden in einer rotierenden Röhre geschliffen, zu rundlichen Formen ohne scharfe Kanten, stumpf wie Milchglas, grünlich, beige und weiss.
Mit Draht werden die ehemaligen Scherben zu unterschiedlichen Ketten geknüpft. Stolz zeigt Charles Fotos der daraus entstandenen chandeliers, Lüster, die elektrifiziert in Häusern, Cafés und Restaurants hängen. Er ist überzeugt, bald noch mehr als die derzeit vier jungen Gehörlosen ausbilden zu können. Wir sind beeindruckt von seiner Idee, dem Engagement, und nehmen gern die Karte mit ihrer Website. Zum Abschied versichert er, chandeliers in jeder gewünschten Grösse überall hin verschicken zu können.
Gerade zwanzig Jahre sind seit dem Ende der Apartheid vergangen, grosse Hoffnungen waren damit verbunden, viele haben gekeimt, manche sind aufgegangen, einige verkümmert. Mit Mandela als erstem Präsidenten nach der Befreiung schossen die Erwartungen, nicht nur im eigenen Land, weiter in die Höhe. Unter Mbeki, seinem Nachfolger, verdörrten bereits viele, und die jetzt beklagte Korruption unter dem dritten Präsidenten Zuma erstickt noch mehr der ambitionierten Pläne für die kommenden Jahre. Aber: Die Abkehr von der unmenschlichen Rassentrennung ist im Bewusstsein aller endgültig – und die grundlegend neue Schul-, Gesundheits- und Sozialpolitik scheint in allen Schichten der Bevölkerung anzukommen.
Nur seit diesen zwei Jahrzehnten hat die grosse Mehrheit der Bevölkerung, die über Generationen durch den Bantu Education Act gewaltsam von jeglicher Bildung fern gehalten wurde, Zugang zu Kindergarten und Schule, Gymnasium, College und den Universitäten des Landes. (Sehr wenige hochtalentierte Schwarze, wie Mandela, Nyerere und Mbeki konnten zwar schon während des vergangenen Jahrhunderts die Whitwatersrand Universität in Johannesburg als einzige Hochschule besuchen – das waren Ausnahmen) Jetzt gibt es Quoten, die wohl die Schwarzen bevorzugen und manche der Weissen, die vorher alles für sich reklamierten, stimmen nun Klage an. Es wird Jahrzehnte dauern, bis die, deren Vorfahren über Jahrhunderte ohne Bildung aufwuchsen, ihren Zugang dazu selbstverständlich finden werden; so selbstverständlich wie die jungen Weissen, in deren Familien immer noch ein Grossteil der Reichtümer des Landes gebündelt liegen.
Wie viele Jahre hat der Reinigungsprozess nach dem Faschismus bei uns gebraucht, wie viel Zeit wird noch vergehen, bis in Deutschland endgültig aus Ost und West „zusammen wächst, was zusammen gehört“? Wir sind auf einem guten Weg, aber unsere Probleme sind gering gegen die der verschiedenen Volksgruppen in Südafrika.
Vor dem Gesetz sind nun alle gleich, aber die wirtschaftliche Macht ist ungleich geblieben. Trotzdem: Vieles lässt hoffen. Vom Geist der von Bischof Tutu geleiteten Truth and Reconciliation Commission, der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die die Befriedung des Landes erst ermöglicht hat, weht – so scheint es uns – noch viel durch viele Schichten der Gesellschaft.
Wir nehmen Abschied, beeindruckt von diesem oft grossartigen, weiten Land, in dem uns die Sonne im Nordosten am Indischen Ozean sehr früh geweckt, am Atlantik, weit im Westen, den Tag erst spät beendet hat. Wenn es in der Zukunft gelingt, die Schätze des Bodens allen seinen Bewohnern gerecht zukommen zu lassen, wie es die neue Verfassung vorsieht, dann hätte die friedliche Umwandlung des Staates vor gut zwanzig Jahren einen seltenen Erfolg.
Viele böse Folgen der Apartheidpolitik sind zu überkommen. Der Weg dazu kann auch hier nur über den dauerhaft für alle möglichen Zugang zur Erziehung und Wissen führen. Durstig danach sind uns viele Junge erschienen.
Im Dezember 2014