2015
Montessori in Port au Prince
Diesmal steht der Besuch bei Haiti Care am Ende unserer zwölf Tage in Haiti. Janine musste gestern schon abreisen, wir sind allein. Natacha, die sich nach einer Operation vor zehn Tage noch ausruhen muss, lässt uns von Eric abholen. Dann treffen wir sie und ihre neue Assistentin Berlie im Waisenhaus in Carrefour, einem der armen Viertel der Stadt. Hier wohnen sechzehn Kinder, die im Moment alle in der Schule sind, in vier Zimmern. Die Betreuerinnen belegen weitere zwei und die noch malade Natacha jetzt eines. Köchin und Wachmann gehören zum Haus mit überdachtem Höfchen, Küche und zwei Sanitärräumen. Alle Kinder schlafen in Stockbetten, es ist einfach, aber kuschelig. Der Innenhof ist mit Mauer und Tor gegen die Umgebung abgeschirmt, alle Wände haben von Natachas Malkünsten profitiert, so dass der Ort Heiterkeit ausstrahlt. Die Wand im Hof ist ein Märchenschloss, gemalt von Natascha und darunter steht „Le forum des anges d’Haiti“
Die Schule von Haiti Care, gleich in der nächsten Strasse, zeigt uns Berlie stolz – vom Eingang im Sockelgeschoss über drei Etagen bis zum Dach mit den Fotovoltaik Paneelen und dem Energieraum mit den – leider – nach drei Jahren verbrauchten Batterien.
In allen Klassen ist gerade Unterricht; wir erleben Rechnen und in der höheren Klasse Mathematik mit Quadratzahlen. Dieter erntet ein einverständiges Lächeln auf die Bemerkung „uh, c`est difficile!“ In der einen oder anderen Klasse werden wir mit einem Lied begrüsst, bei anderen stören wir, obwohl wir es nicht wollen, den Unterricht. Überall steht oben auf den Tafeln „Ohne Anstrengung kein Erfolg“.
Zum Schluss werden wir in der Montessori Kindergartenklasse überrascht. Das hatten wir nicht erwartet: Ruhiges, ernsthaftes beschäftigt sein von 36 Kindern, angeleitet von drei Lehrerinnen. Die Kinder ordnen Ziffern den in farbige Abschnitte unterteilten Holzstäben zu, sortieren bunte Klötze in unterschiedlichen Schattierungen, sieben Mehl und zählen konzentriert Bohnen aus einem Becher in den anderen. Andere malen und schreiben erste Buchstaben, werden korrigiert und ermuntert.
Wir haben so einen kleinen Einblick in die Montessori Pädagogik. Ist es auch dieser Geist oder Natachas Inspiration, Ermahnungen, Ge- und Verbote zu Ruhe und Disziplin in Comiczeichnungen mit Sprechblasen an diversen Wänden in Fluren, Treppenhaus und Klassenzimmern zu vermitteln? Die Abschlusswand im Hof – darunter wird das Wasser von den Dächern in einer Zisterne gesammelt – hat einen mächtigen gemalten Baum, dessen grüne Blätter die Abdrücke vieler Kinder-Hände sind. Für die zwei roten Blätter hat das Stifterehepaar Kaasch den Abdruck seiner Hände eingefügt.
Wir besuchen noch die Computerklasse mit 16 PCs (gebraucht gestiftet, derzeit wegen der kaputten Batterien jedoch ohne Strom) und die Bibliothek mit Schulbüchern, Lexika und ein Paar Bänden Belletristik. Dem betonierten Allzweckfeld im oberen Geschoss fehlt noch seine geplante Überdachung. Das Geld wurde dringender für anderes gebraucht.
In der Küche rühren die beiden Köchinnen zwar noch, werden aber gleich die 300 Essen in verschiedene Schüsseln, eine für jede Klasse, aufteilen. Für viele der Schüler aus dem umliegenden Viertel ist es die einzige warme Mahlzeit am Tag. Nicht immer nach dem Pipi, aber vor dem Essen erfolgt das uns schon bekannte Hände-Wasch-Ritual, an dem alle begeistert teilnehmen.
Es ist uns eine grosse Freude, diese bestgeführte Schule wieder zu besuchen und zu sehen, wie motiviert und fröhlich die Kinder hier tagsüber leben und lernen.
Bild: Natacha,-Heinz-und-Helferin-(v.l.)
Bild: Maerchenschloss-im-Hof
2013
HaitiCare´s Natacha
Natacha treffen wir, die Adoptivtochter des Ehepaars Kaasch, den Gründern und Leitern des Berliner Hilfsvereins „HaitiCare“. Das Paar hatte vor drei Jahrzehnten eine Patenschaft für die damals kleine Waise übernommen, sich nach einem Besuch hier zur Adoption entschlossen und Natacha in die Familie integriert. Angerührt von so vielen ähnlichen Schicksalen und von der Faszination des Landes, hatten sie kurz danach HaitiCare gegründet.
Heute leitet ihre Tochter souverän die Organisation hier in Port au Prince: Das Waisenhaus, eine Schule für 300 Schülerinnen und Schüler, eine Dependance in Hinche, 150 Kilometer nördlich, für ältere Mädchen und Jungen, die dort eine Berufsschule besuchen.
Der klapprige Allrad-Toyota wird ziemlich voll, mit der zwischen uns sitzenden Chantal aus Berlin unterhalten wir uns: Sie ist seit drei Monaten hier, nachdem sie sich nach dem Abitur das Geld für ihr Haiti-Jahr verdient hatte. Flug, Miete und Aufenthaltskosten muss sie selbst tragen. Einen Monat hat sie im Waisenhaus gearbeitet, dort war Kost und Logis frei; nun unterrichtet sie in der Schule die 10-12 Jährigen in Basteln und Englisch. Vor allem beim Singen englischer Liedern behielten die Kinder viel. Sie habe unbedingt nach Haiti kommen wollen – trotz der Reisewarnung des AA – weil ihre Urgrossmutter von hier stammte. Sie ist froh, durch Herrn Kaaschs Vermittlung hier zu sein, die Arbeit mache grossen Spass, die Kinder seien enorm motiviert. Wir sind gespannt auf den Besuch der Schule am nächsten Tag.
Eric, der Fahrer, bringt uns am Morgen zur Schule von HaitiCare im dicht besiedelten Carrefour-Viertel. Er parkt neben einer Gruppe Frauen, die vom Abpacken der Holzkohle, die sie in kleinen und kleinsten Mengen verkaufen, noch schwärzer sind. Steil geht die nur von Fussgängern belebte Strasse empor, Gemüse und Obst auf Matten rechts und links, daneben die unter Sonnenschirmen hockenden Marktfrauen. Nach der nächsten Ecke geht es noch weiter den Hügel hoch zum offenen Tor der Ecole Mixte de l’Avenir, die oben eng zwischen den Häusern steht.
Freundlich begrüsst im Sekretariat, führt uns Godive, eine Assistentin, strahlend durchs Haus an den offenen Klassen vorbei. Die Pause beginnt, Schüsseln mit Essen stehen schon, noch von Tüchern abgedeckt, im Gang. Viele der Kleinen stürzen uns schon lachend entgegen: „Bonju, bonju“ kreolisch, manche lupfen das Tuch, um zu sehen, was es heute gibt.
Alle wollen uns anfassen, manche umarmen uns. Immer wieder streichen sie über die blonden Haare auf unseren Unterarmen, fragen nach dem Namen, halten uns fest, wir kommen nur langsam weiter. Trotz der Aufregung stellen sich die 5–8jährigen jetzt im offenen Gang an der Brüstung auf, vor dem Essen werden die Hände gewaschen. Die Sanitärräume wären dem Ansturm nicht gewachsen, also werden jedem die Händchen aus einer Spüliflasche mit einem verdünnten Spritzer benetzt, dann reibt jeder kräftig und hält sie ausserhalb der Brüstung über die Regenrinne, und ein Junglehrer kippt eine Schippe Wasser aus einem Eimer über die Händchen. Das geht in Windeseile, der Hunger ist gross. Die tägliche warme Mahlzeit für die Kinder in der Schule sei wichtig, manchmal sei es die Einzige. Einen Moment später kommen auch die Grösseren aus ihrer Klasse; sie mussten noch warten, und sie waren konzentriert auf ihren Plätzen geblieben, bis die Lehrerin alle Klassenarbeiten, jede mit einem Kommentar, zurück gegeben hatte.
Wir sind beeindruckt vom guten Geist, der alles beherrscht, von der Fröhlichkeit, aber auch von der Disziplin, der Ordnung, die deutlich spürbar ist. Godive führt uns weiter durch verschiedene Klassen, einen Computerraum und über den offenen Spielhof auf dem Flachdach. Überall spüren wir die gleiche Fröhlichkeit und die gute Atmosphäre zwischen Kindern und Erwachsenen. Im Büro bezahlt ein Junge gerade für etwas bei der Sekretärin im grünen Kleid mit passend grüner Blume im Haar, beide lachen.
Der Schulbesuch selbst ist kostenlos für die 300 Kinder, von denen ein kleiner Teil aus dem eigenen Waisenhaus, der grössere aus dem umgebenden armen Viertel kommt. Die Kaasch´s und Natacha sind sehr stolz, hier eine so ausgezeichnete Schule zu betreiben, ohne dafür Schulgelder zu fordern. Das ist in Haiti eine kaum hoch genug zu schätzende Ausnahme. Das Gebäude war durch das Erdbeben beschädigt, konnte danach aber durch den grossen Einsatz vor Ort, auch durch zu jener Zeit in Deutschland gut fliessenden Spenden relativ schnell wieder hergestellt werden.
Dies alles zu unterhalten, bedeutet auch einen ständigen Aufwand: Um die Schule, das Waisenhaus, die Verwaltung und die Dependance in Hinche kümmern sich etwa 50 Lehrer und Betreuer. Eine grosse Leistung, das alles mit einem schmalen Budget zu ermöglichen.