HAITI KINDER HILFE

2015

Die Jungen werden grösser

Mit dem Problem der immer grösser werdenden Jugendlichen, die irgendwann aus der Obhut in ihr eigenes Leben entlassen werden müssen, kommen wir im Haus der Haiti-Kinder-Hilfe in Port au Prince hautnah in Kontakt.

Unser Besuch bei der HKH beginnt mit einem langen Gespräch mit Phebee Tournier und André Paul, ihrem neuen Mitarbeiter und Betreuer. André ist Chemiker, war in den USA, ist ein Schatz, der seinen Job bemüht, flexibel und verantwortlich macht. Diese positive Haltung strahlt hoffentlich auf die Jungen und Mädchen aus.

Auch hier sind wir uns – theoretisch – mit beiden über die Wichtigkeit der Erziehung und Information zur Familienplanung einig. Wir rufen gleich „Promotion de la famille haitienneauf Phebees Lap auf. Sie meint, sie kenne „Pro familia“ Ob sie wirklich jemand von denen zu einem Workshop einladen? Wir werfen einen Stein in den Teich, vielleicht kommen kleine Wellen am Ufer an.

Hier sind die Jugendlichen in einem Mädchen-, einem Jungenhaus und die Älteren seit Jahren – mit gewisser Selbstständigkeit – in einer betreuten WG untergebracht. Die Mädchen, fast alle in einer Ausbildung, sind ausgeflogen – auf ihren Arbeitsplätzen.

Die Jungen, meist noch Schüler, haben wegen der Wahlunruhen keinen Unterricht und sind zu Hause. Ihr Haus war vor zwei Jahren so schön, es war damals gerade erworben; nun überrascht eine gewisse Tristesse. Vielleicht könnten die Jungen – unter Anleitung – selbst einmal den Malerpinsel schwingen? Das ist das Zuhause der Jungen, das sollten sie pflegen. Diese Verantwortung könnten, müssten sie unserer Meinung nach übernehmen. André meint, die Erziehung dazu, sich überhaupt für etwas zuständig zu fühlen, sei sein Kampf gegen Windmühlen.

Danach treffen wir die acht jungen Männer der WG. Der Anregung der Nichte – sie musste leider schon abreisen – sind wir gefolgt, haben die „Grossen“ mit André zum Essen eingeladen, um dabei „lockerer“ zu reden. Wir haben einige Fragen:

Ob Sie in ihrer privilegierten Situation den jüngeren im Jungenhaus, die die Hilfe bräuchten, als Tutoren zur Seite stünden?

Ob sie denn an den Präsidentschaftswahlen teilgenommen hätten?

Ob sie nun von dem, was sie seit Jahren von der HKH bekämen, denen, die bedürftiger seien als sie, etwas weitergeben könnten?

Die Fragen scheinen sich ihnen noch nicht gestellt zu haben. Von Fortschritten im Englischen erfahren wir leider nichts, obwohl ihnen André Paul angeboten hatte, einen Kurs an einigen Nachmittagen in der Woche abzuhalten.

Sie informieren uns über ihren Plan einer privaten Buslinie nach Les Cayes, einer Provinzstadt im Süden – sicher eine Möglichkeit für geschäftliches Engagement bei der nicht vorhandenen Infrastruktur im öffentlichen Verkehr. Der Plan erscheint uns eher als eine Idee, was man machen könnte, wenn man 35000 Dollar hätte, um einen Bus zu kaufen – noch nicht ganz zu Ende gedacht und vielleicht mangelt uns der in Aussicht genommene eigene Einsatz. So macht das Ergebnis dieses Gespräches nicht sehr froh.

Wann sind die Jungen und Mädchen erwachsen? Wann können sie auf eigenen Füssen stehen? Wie kann man sie aus der Obhut, aus dem Versorgt-Werden entlassen?

Viele der Leiter der von uns unterstützten Häuser fragen sich, was sie für das weitere Leben der Jugendlichen, der nun auch schon jungen Erwachsenen, tun können. Soll man eine kleine Fabrik für was auch immer versuchen aufzubauen? Soll man Land erwerben und eine arbeitsintensive Farm gründen? Ist es eine Möglichkeit, für immer weiter gehende Ausbildung zu sorgen? Zu welchem Ziel? Soll man Gründungsdarlehen vermitteln oder selbst geben? Für welche Gewerbe? Wie könnten die Darlehen zurückgezahlt werden?

Diese Fragen werden immer dringlicher, je älter die Kinder werden. Dabei hoffen alle, dass die dünne bürgerliche Schicht, die sich in den ersten Jahren nach 2000 gebildet hatte und deren Entwicklung durch das Erdbeben jäh unterbrochen wurde, wieder heranwächst. Damit steigt die Chance, dass die – zumindest etwas – ausgebildeten jungen Erwachsenen auch eine Arbeit finden, bei der sie ihr Wissen und ihr Wollen einsetzen können.

Die-Grossen-von-HKH-mit-Heinz

Bild: Die Grossen von HKH mit Heinz

2013

Kleine Jungs, grosse Jungs und viele Mädchen

Zu unserer ersten Verabredung mit Phebee Tournier von der „Haiti Kinder Hilfe“, dem privaten, von Claire und Frank Höfer geleiteten Verein kommen wir zu spät, da wir die Entfernung und die embouteillages, die Staus, auf den z.T. unbefestigten, von Schlaglöchern übersäten Strassen unterschätzen. Wenigstens können wir unsere Verspätung ankündigen, weil wir gleich am Flugplatz eine Telefonkarte gekauft hatten. Das hiesige Mobiltelefon wird in den kommenden Tagen das wichtigste sein, um sich zu verabreden, Adressen zu finden, Änderungen zu besprechen.

Phebee zeigt das Haus der Mädchen: zwei Geschosse, luftig durchweht, unten Küche, Essraum und Nebenräume, oben geräumige 4-Bett-Zimmer mit Spinden, Wir sehen nur drei Mädchen, die nachmittags ihren Kurs zur Berufsausbildung als Krankenschwester machen, die anderen 15 sind gerade in der Schule. Der Besuch ist kurz, Phebee bedankt sich für die mitgebrachten Medikamente.

Später besuchen wie das noch schönere Haus der Jungen, ganz in der Nähe, erst vor einigen Monaten gekauft, das von Maitre Claude liebevoll geleitet wird. Hier scheint noch Platz zu sein für einige weitere Bewohner. Die achtzehn Jungen, die uns im Hof empfangen und stolz ihre Zimmer zeigen, sind alle elternlos, haben zuvor in schlimmen Umständen gelebt, erscheinen uns heute stolz, hier zu sein. Die meisten gehen zur Schule, das Schulgeld übernimmt die Haiti Kinder Hilfe, zwei machen eine Ausbildung bei den Salesianern, zwei gehen auf eine Fachoberschule.

Comunité des Garcons
Am Nachmittag besuchen wir mit Phebee die Jungs-WG. Die Höfers haben die „Grossen“ aus dem maison des garcons hierher, in halbe Selbstständigkeit, entlassen. Die acht Jungmänner geben uns schüchtern die Hand und Phebee einen etwas zögerlichen Wangenkuss. Sie leben allein in dem von der Haiti-Kinder-Hilfe angemieteten Haus. Jeden Samstag erhalten sie ihr Kostgeld für den wöchentlichen Einkauf. Wir sind erstaunt, dass sie schon 18 bis 22 Jahre alt sind und noch zwei bis drei Jahre zur Oberschule gehen müssen. Wegen der Armut ihrer Familien oder als Waisen kamen sie erst spät zur Haiti-Kinder-Hilfe und in eine Schule.

Die Jungs zeigen uns ihre drei Schlafzimmer, eines für die vier, eines für die beiden anderen Brüder und ein weiteres mit drei Betten. Einer hebt seine Schlafunterlage an, die eher eine dünne Auflage als eine Matratze ist – für alles kann eben nicht sofort gesorgt werden, denken wir. Im fast gemütlichen Gemeinschaftsraum mit einem Sofa, einem langen Tisch, ein paar Sitzgelegenheiten und einem kleinen TV zeigt uns Petit, der Kleinste, die librairie nur mit einem sechsbändigen, bebilderten Jugendlexikon, einigen Heftchen und Broschüren. Sie machten alles selbst, betonen sie im blank geputzten Koch-Waschraum, keiner sei der Chef, sie würden sich jeweils einigen, wie sie mit ihrem Geld, ca. € 30 pro Mann, eine Woche auskommen. Phebee und der Fahrer bleiben im Haus, als wir in den Hof gehen, ein Foto von jedem machen, wozu einige schnell das Hemd wechseln, während wir uns weiter unterhalten. Alle haben grosse, vielleicht zu grosse Berufsträume für die Zeit nach der Schule. Der 22jährige will Gynäkologie studieren, seine Brüder Medizin und Zahnmedizin, die anderen Jura, nur einer macht bei den Salesianern eine Ausbildung als Schreiner. Der einzige etwas englisch sprechende gibt Erklärungen. Das führt zu unserem insistieren, sie müssten alle Englisch lernen. Es sei überaus wichtig; auch in Deutschland und anderen Ländern würden viele Vorlesungen auf Englisch gehalten. Lebhaft werden sie alle bei der Frage nach einem Laptop: Nein, sie hätten nur das TV und leider gäbe es auch in ihrer Schule, keinen Informatikraum und keinen Computer.

Wir sprechen noch über Sponsoren, Stipendien, bourses d’études, die sie ja für ein anvisiertes Studium bräuchten. Dabei sind sie nachdenklich; vielleicht ist ihnen klar, welch weiter Weg es bis dahin ist. Vielleicht ist ihnen auch ihr Ex-Kamerad ein Vorbild, dessen Studienplatz für das Jura-Studium in der Dominikanischen Republik von der Haiti-Kinder-Hilfe finanziert wird.

Wadner, einer der vier Brüder, schreibt eine Liste ihrer Namen auf, und zum Abschluss machen wir noch ein Gruppenfoto von allen, sie strahlen nun und wir müssen später identifizieren, wer welcher ist…

Wir sind entschlossen, der WG möglichst schnell einen Computer zu stiften. Das Strahlen ist schon am Telefon hörbar. Wie viele denn kommen sollten, fragen sie. “Mindestens einer, maximal acht“ ist unsere Antwort. Nach dem Treffen ziehen drei froh mit der Liste und unserem einzigen französischen livre du poche für ihre librairie ab: Marcel Proust A coté du chez Swann.

Comments are closed.