2015
Neubau im Lakay
Padre Stra erwartet uns am Eingang, dem „Portone Azzurro“ Auch hier, auf dem weiten Gelände der Don-Bosco-Brüder, findet wegen der Unruhen nach dem ersten Wahlgang kein Unterricht in den Schulen statt. Alle Bewohner des Lakay, knapp achtzig Jungen und einige der Aufsichtspersonen, lernen, spielen, lesen und sind mit ihren Cellphones beschäftigt in der überdachten, durchwehten Zone zwischen dem alten und dem neuen Gebäude.
Wir hatten nicht erwartet, den Anbau schon fertig zu sehen. Dass er so gut nutzbar wäre, war uns schon klar, als wir die Pläne vor zwei Jahren gesehen hatten. Damals hatte uns P. Stra begeistert von seinen Plänen gesprochen; nun führt er uns, noch begeisterter, durch den Neubau. Die damals noch fehlenden Gelder für den Bau haben sich zum Glück gefunden.
Den ganzen Hof davor haben sie – ein Geschenk der UN – auch noch befestigen können. Einige Pflanzlöcher für Schatten spendende Bäume, vielleicht Mangos, Maracujas, Breadfruits oder auch einen Banyontree wären sicher eine gute Idee gewesen. Aber das lässt sich ja nachholen. Das zweite Geschenk der UN wird uns auf der Südseite des Dachs gezeigt: Für die Stromversorgung des Lakay sind hier ca. 60 qm Fotovoltaik Paneele installiert. Dazu gibt es den entsprechenden Batteriesatz, den wir später sehen. Keinen Stromausfall hätte es mehr gegeben, seit die Anlage in Betrieb sei!
Über Solarkocher haben wir auch gesprochen und Bilder gezeigt. Wir glauben immer noch, dass die wunderbar in ihren Werkstätten hergestellt und von vielen kleinen Haushalten statt der Holzkohle-Tiegel mit Erfolg benutzt werden könnten. Wahrscheinlich ist die Herstellung das weitaus kleinere Problem, das viel grössere die Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung, besonders bei den Frauen, diese glänzenden Dinger, gross wie Satellitenschüsseln, dann auch zu benutzen.
Für die nette Köchin, die in der Küche im Bottich den Maisbrei für alle Männer rührte, ist das natürlich keine Alternative. Da bleibt im Moment nur das Gas.
Unser Gespräch mit der liebevollen, aber auch durchsetzungsfähigen Directrice und Padre Stra über Familienplanung ist offen und konstruktiv. Obwohl die Jungen meist „alles“ schon wüssten, müssten sie zu Verantwortlichkeit im sexuellen Verhalten erzogen werden. So dränge der Padre immer wieder auf den Respekt der Jungen gegenüber den Mädchen: Dass diese – bis auf das der Übermittlung von Krankheiten – allein alle Risiken trügen und bei Schwangerschaften mit ihrem Leid und ihren Sorgen nicht allein gelassen werden dürften. Die Jungen, das sei ihm so wichtig, sollten sich in der Verantwortung sehen. Das zu vermitteln, sei nicht leicht. Das unterrichtete er, dafür habe er seine Powerpoint–Tafeln. Wir hatten nicht erwartet, so klare Auskünfte zum Thema zu bekommen.
Janine war während der Zeit mehr auf die Jungen zugegangen, hatte sie befragt, versucht, ihre Probleme zu sehen. Während wir mit dem Padre und der Direktorin sprachen, hat sie mit ihnen mal einzeln, mal mit einem Freund, mal in einer Gruppe gesprochen, fotografiert, ihre Fragen beantwortet. Bei den beiden Dankes- und Abschiedsliedern war die Stimmung dann so gelöst, dass wir sicher an unseren Dank einen kleinen Diskurs hätten anfügen sollen: Über die Träume, die jeder von Ihnen für die Zukunft habe, wie wichtig es sei, sie zu verfolgen, dass nur dann – vielleicht nicht alle – aber einige von ihnen Wirklichkeit werden können.
Das müssen wir nun in einer Mail nachholen. Ebenso wie den Vorschlag der Bäume im Hof und die Anregung von Janine, ob nicht die klösterliche Strenge der Schlaf- und Speisesäle etwas aufgebrochen, vielleicht auch die Wände des schönen neuen Aufenthaltsbereiches durch begabte Schüler mit einem Bild, einem Mural gestaltet werden könnten.
Uns bleibt das Fazit unseres ersten Besuches vor zwei Jahren: Hier haben fast achtzig Strassenjungen, deren Leben nur aussichts- und freudlos war, ein Zuhause gefunden: Eine von Zuneigung und gegenseitigem Respekt geprägte Umgebung, eine Struktur zum Umgang miteinander und zum Lernen, zur Berufsausbildung, ein Dach und ein Bett und die Sicherheit sich abends nicht hungrig hinein legen zu müssen. Hier erhalten sie – wie vorher nie – die Chance, ihr Leben freudig und in Würde anzugehen. Das wissen alle und dafür sind sie dankbar.
Bild: Padre Stra, Heinz und Janine
Bild: Köchin im Lakay
2013
Lakay des Padre Stra
Liebevoll und streng
Salesianer und Salesianerinnen arbeiten in Haiti auch als Streetworker. Sie gehen in die Slums um die im Elend lebenden Kinder – viele von ihnen allein, ohne Eltern oder von ihnen verlassen – in ihrer Welt zu suchen. Das Ziel ist, diesen Kindern nahe zu kommen durch das Gespräch und durch die Aufmerksamkeit, die sie den Jungen und Mädchen entgegen bringen.
Als erster Schritt zum weiteren Kontakt wird ihnen angeboten, in den offenen Hof, das La Rue aufzusuchen, um täglich eine warme Mahlzeit zu bekommen und sich und ihre Kleidung waschen zu können. Wenn die Kinder und Jugendlichen diesen Weg gefunden haben und ihn schätzen, ist das nächste Angebot der ständige Schlafplatz und das Essen im Lakou, schon verbunden mit ein wenig Unterricht – auch um ihnen näher zu kommen – und mit der Forderung, sich in die noch lockere Gruppe zu integrieren, Drogen zu meiden und kleine Verantwortungen zu übernehmen.
Entscheiden sich die Kinder und Jugendlichen endgültig dazu, der Strasse den Rücken zu kehren, folgt die dritte Stufe, die Aufnahme in das Lakay (das Zuhause), verbunden mit dem Besuch einer Schule und/oder einer Berufsausbildung.
Dieses dreistufige Strassenkinderprogramm unterhalten die Salesianer hier in Haiti in Port au Prince, in Les Cayes, in Cap Haitien und an anderen Orten.
Heute besuchen wir das Lakay in Cap Haitien. Padre Attilio Stra, gut über achtzig, leitet es. Leicht gebeugt geht er und der Rücken schmerzt, aber seine Augen strahlen, als er uns empfängt.
Er macht er uns bekannt mit Padre André Mytiliien, dem Direktor der ganzen Anlage, die das Lakay, eine Berufsschule und die Lehrwerkstätten für Schlosser, Mechaniker, Tischler und fünf weitere Berufsgruppen sowie eine Lehrgärtnerei umfasst. Durch die Werkstätten führt uns P. Stra, er wird immer mit offener Freude, wir mit Überraschung, etwas scheu, aber auch gleich lachend begrüsst.
An unser Praktikum erinnert es uns: Grundlegendes zu allen Berufen wird gelernt, keine duale Ausbildung deutschen Zuschnitts, aber die jungen Männer wissen nach drei Jahren wie man ein Metallteil zum Einbau dreht oder winklig, auf Mass und gerade feilt, wie eine Mauer im Verband, ein Pfeiler und eine Betondecke richtig erstellt, wie ein Ärmel zur Jacke zugeschnitten und mit dem Futter eingenäht, wie Stuhl, Fenster und Träger eines (kleinen) Dachstuhls überblattet und verzapft, wie Pflanzen gesät und pikiert werden und wie ein bockender Motor wieder in Gang gebracht wird.
Nach dem Gang durch acht Werkstätten und die Gärtnerei fahren wir hinüber zum Wohnhaus, dem Lakay der 70 Jungen „Das schönste Haus in Cap Haitien“ sagt der Padre stolz, als er aus seinem von Unicef gestifteten, inzwischen etwas ramponierten Geländewagen steigt. Vor einem Jahr sei das Haus fertig geworden, vorher hätten sie nur ein gemietetes in der Stadt gehabt, nun dies hier: Ein Blechdach über einem hohen Raum, 12x40m, also ca. 500qm gross – an den Längswänden 4, im First wohl 7 Meter hoch. Vom Aufenthalts-Ess-Versammlungsraum sind mit nur halbhohen Wänden eine Küche, dann am Mittelflur aufgereiht eine Koje für den Padre, ein Büro für ihn und zwei Mitarbeiter, drei Schlafsäle mit Stockbetten und gespendeten Blechschränken für die 70, ein Raum mit acht älteren Laptops, ebenfalls gespendet von einer Hilfsorganisation, die ihre Arbeit nach dem Erdbeben eingestellt hat, und ein Raum mit Toiletten, Duschen und Waschbecken. Am Ende des Flurs der Ausgang auf eine Terrasse, offen nach Norden, luftig und durchweht, aber auch nicht grösser als 50qm.
Dies sei ihr eigentlicher Aufenthaltsraum, hier seien sie alle in den wenigen freien Stunden zusammen. Ihr Tageslauf sei voll durchgeplant. Um fünf Uhr stünden alle auf, dann seien die Betten zu richten, die Räume sauber zu machen, die Böden zu wischen, um halb sieben gäbe es Frühstück, das sich die Jungs in Gruppen gemeinsam herrichteten. Eine halbe Stunde später begännen die Werkstätten, dort ginge der praktische Unterricht bis zwölf. Zu einem kurzen Mittagessen, das zubereitet würde, „weil Jungen eben nicht kochen könnten,“ seien sie dann im Haus, wechselten von der Werkstatt-Uniform in die der verschiedenen Schulen, die alle Jungen von 13:15 – 17:00 besuchten. Vor dem Abendessen um halb sieben habe jeder ein wenig Zeit für private Dinge, für das Waschen seiner Wäsche dort hinten am Wassertrog zum Beispiel, oder zum Bügeln eines seiner Hemden.
Während wir das hören, es war gegen 12 Uhr, kamen die Jungen, einer nach dem anderen, in kleinen Gruppen, von den Werkstätten herüber, an unserem Tisch vorbei. Padre Stra begrüsste jeden mit Handschlag, manche mit dem burschikoseren Berühren der Fäuste, uns gab jeder lachend die Hand. Keiner machte ein mürrisches oder gelangweiltes Gesicht. Am ganzen Vormittag in den Werkstätten und der Schule hatten wir auch kein böses Wort und keinen Streit gehört.
Das sei doch ganz natürlich, sagte der Padre, die Jungen seien ja oft keine Jungen mehr, sondern junge Männer, sie erinnerten alle sehr genau ihr Leben auf der Strasse, ohne Halt und ohne jede Hoffnung. Natürlich sei ihre Entwicklung nicht mit der eines normal und behütet aufgewachsenen jungen Menschen zu vergleichen. Seine Jungs, das wisse er, sind sich alle sehr bewusst der Chance, die sie hier haben. Die wolle keiner auf´s Spiel setzen.
Wir irren uns jedes Mal, wenn wir das Alter des einen oder des anderen schätzen: Der, den wir für 19 halten, ist meist schon 25, und der vermeintlich 15jährige ist fast 20. Die verlorenen Jahre der Kindheit, fehlende Liebe und Sorge, sind nicht aufzuholen – allenfalls können sie nachträglich etwas ausgeglichen werden.
Das Essen sei übrigens sehr abwechslungsreich, sagt Padre Stra „Heute Reis mit Bohnen, das haitianische Nationalgericht, morgen Bohnen mit Reis, das andere Nationalgericht“ Zu mehr reiche einfach das Geld nicht, vielleicht manchmal für ein paar Rosinen oder Nüsse oder es gäbe etwas Gemüse aus ihrer Gärtnerei. Sonntags würde es mitunter angereichert durch ein Ei oder einen Schweinsfuss – was eben möglich sei.
Auf unsere genaueren Fragen nach dem Geld, das ihm zur Verfügung steht, gibt er uns sehr bereitwillig Auskunft: Das Grundstück, gross und mit Möglichkeiten zur Erweiterung der Gebäude, sei vom Staat unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Der Neubau für das Lakay habe 300.000 € gekostet, dies habe zum grossen Teil Don Bosco Mondo übernommen. Der laufende Etat für den Betrieb beliefe sich auf 4.000 € im Monat, auch die würden von Don Bosco Mondo in Köln getragen. Aus Rom – vom Mutterhaus oder vom Vatikan, der nur die Bistümer finanziere – käme nichts.
Wir rechnen: Das sind 55 – 60 € im Monat für jeden Jungen, sehr wenig selbst bei haitianischen Preisen, die so niedrig nicht sind. Auch noch 4 – 6 € Taschengeld für jeden sei darin enthalten – Sie hätten da ein Punktesystem: Wer sich besonders für die Gemeinschaft einsetze oder sich ausserhalb des Hauses in irgend einer Form nützlich mache, bekäme dafür Punkte der Anerkennung, die zu einer kleinen Erhöhung des Taschengeldes führten.
Dann zeigt er uns den Entwurf für die Erweiterung des Wohnhauses, die er gern so schnell wie möglich bauen möchte, denn die Werkstätten könnten mehr Jungen zur Ausbildung aufnehmen, seine Küche und die Mitarbeiter könnten gut weitere 30, sogar 40 Jungen betreuen. Im Neubau hätte er eine etwas grössere Kammer, und eine weitere für Gäste sei auch dringend erforderlich. Ausserdem würde dadurch endlich dieser überdeckte Aussenraum in dem wir sitzen, ihr eigentlicher Wohnraum, vergrössert. 210.000 € solle der Anbau kosten, ein neuer Sanitärbereich sei nicht erforderlich, der vorhandene reiche aus. Zusagen für 150.000 € hätte er schon von zwei Spendern. Wir bedauern, dass der noch fehlende Betrag die Mittel unserer Stiftung übersteigt.
Inzwischen sind alle Jungen zur Schule gegangen. Zeit zum Essen für uns sei es. Wir fahren auf einem Feldweg an der Gärtnerei und den Werkstätten vorbei zum letzten Haus.
Heute steht nur noch der Kuchen vom gestrigen Geburtstag, den der Erzbischof von Port au Prince hier gefeiert hatte, auf der lazy susan, der Drehplatte in der Mitte des Tisches. Wir sitzen zu sechst darum, P. Mytilien – der Leiter, unser Gastgeber – die Direktoren der Schule und der Werkstätten, der eine pfiffig, der andere emsig – P. Stra und wir beide. Zwischen einem kurzen Segen zuvor und einem Dank nach dem Cafe führen wir ein eher weltliches Tischgespräch in Italienisch.
Viele Themen streifen wir: Die frühen Jahren des einen oder anderen in Rom, die Schwierigkeit, gute Ausbilder für die Werkstätten zu finden, dass ihre Diözese wirklich sehr arm sei, die Güte des Rotweines, von dem wir jeder ein Glas trinken, und davon, dass das Verhältnis zu einigen, wenigen Jugendlichen zwar problematisch sei, dass sie aber kaum je wirklich enttäuscht würden. Wir haben den Eindruck einer sehr unklerikalen Gemeinschaft von Padres, denen dafür die Sorge um die Jugendlichen, um jeden einzelnen von ihnen, am Herzen liegt. Das Essen dauert kaum eine halbe Stunde, dann müssen die Vier an ihre Arbeit, wir verabschieden uns, Padre Stra begleitet uns in den Hof, wünscht uns weiter eine gute Reise und umarmt uns am Wagen.